28. November, 2025

Genug vom lauwarmen Storytelling: Wie „Anti“-Marken allen anderen die Show stehlen

Warum die interessantesten Marken einen Feind brauchen (und nicht noch einen weiteren «Purpose»)

Während sich 90 % der Marken noch fragen, welchen vage konsensfähigen «Purpose» sie in den Vordergrund stellen sollen, hat eine handlungsfähige Minderheit einen anderen Weg gewählt: sich einen klaren Feind zu suchen, dazu zu stehen und ihr gesamtes Storytelling dagegen aufzubauen.

Das ist nicht gerade «nett». Aber es ist verdammt effektiv..

Black Sheep: Der Optiker, der im BHV im Widdermodus einzieht

Das jüngste Beispiel: Black Sheep, ein Low-Cost-Optiker, der sich im BHV Marais in Paris niederlassen wird. Ihr Versprechen lässt sich in einen einfachen Satz fassen: Wenn Sie in Frankreich 450 € für Ihre Brille bezahlen, dann nicht, weil sie teuer in der Produktion ist, sondern weil man Sie seit Jahren für ein wandelndes Portemonnaie hält.

Laut den Berichten über ihre Ankunft wird Black Sheep Fassungen ab 2,95 € verkaufen, Einstärkengläser für rund 5 €, Gläser mit Progression für 25 €. Mit offensiv kommunizierter Transparenz, dass alles aus chinesischen Fabriken kommt, und sogar einer Webcam im Laden, die die Produktion in einer dieser Fabriken live überträgt..

Das Storytelling ist glasklar:

  • Feind: traditionelle Optiker, deren Brillen im Schnitt mehrere hundert Euro kosten.
  • Held: das «schwarze Schaf» der Optik, das die Rente knackt und das System entlarvt.
  • Beweis: unanständig tiefe Preise und aggressive Transparenz (die Webcam auf die Fabrik).

Wo eine klassische Marke gesagt hätte: «Wir machen Brillen zugänglicher», sagt Black Sheep: «Wir beenden einen organisierten Betrug.» Der ökonomische Kern ist derselbe, aber der narrative Rahmen ändert alles.

Resultat: Noch bevor der Laden überhaupt geöffnet hat, erhielt die Marke massive Medienpräsenz und löste eine nationale Debatte über den Brillenpreis aus. Sie hat die Aufmerksamkeit nicht gekauft, sie hat sie geschaffen, indem sie einen Konflikt eingeführt hat.

Back Market: Apples Werbung hacken, um die «Fast Tech» anzugreifen

Ein weiterer interessanter Fall: Back Market, ein Marktplatz für generalüberholte Geräte, hat sich einen Feind ausgedacht, der keine einzelne Person ist, sondern ein ganzes System: die «Fast Tech». Die Idee ist simpel: die gleiche Logik wie bei Fast Fashion, nur angewendet auf Smartphones, Konsolen und Laptops.

Zum Earth Day 2025 hat Back Market Apples ikonische Kampagne «Shot on iPhone» gekapert: gleiche visuelle Codes, aber die Fotos zeigten die Umweltzerstörung zwischen zwei Smartphone-Generationen (abgeholzte Wälder, verschwundene Gletscher), mit einer expliziten Botschaft über die Auswirkungen dieser Besessenheit vom «immer neu».

Auch hier ist die Mechanik klar:

  • Feind: die Kultur der Obsoleszenz, symbolisiert durch die grossen Tech-Marken.
  • Held: das Reconditioned-Produkt, inszeniert als Akt des Widerstands.
  • Beweis: Zahlen zum ökologischen Fussabdruck und Geschichten über absurde Nutzungsweisen (Telefone, die alle zwei Jahre ersetzt werden, Geräte, die in Schubladen liegen).

Back Market erklärt nicht nur, dass es «verantwortungsvoll» ist, refurbished zu kaufen. Die Marke stellt ihr Publikum auf die Seite jener, die ein toxisches Modell ablehnen. Das ist eine moralische Haltung, keine blosse USP.

Oatly: Die «Post-Milch-Generation» gegen die Milchkultur

Im Lebensmittelbereich spielt Oatly seit Jahren die Karte des bewusst angenommenen Antagonismus. Die Marke verkauft nicht einfach Hafergetränke, sie verkauft eine Identität: die der «Post-Milch-Generation», die den Kuhmilch-Karton als Relikt des 20. Jahrhunderts betrachtet.

Beim Launch in Frankreich hat Oatly Pariser Quartiere mit Street-Art-ähnlichen Fresken überzogen, die «Bonjour Paris» verkündeten und signalisierten, dass die Marke als «Fahnenträgerin der Post-Milch-Generation» kommt. Kein klassisches 4×3-Plakat mit Produkt-Packshot, sondern ein fast kultureller Anspruch: «Wir sind hier, um eure Normalität zu erschüttern.»

  • Feind: die implizite Norm «Milch ist neutral und universell».
  • Held: Konsumentinnen und Konsumenten, die Hafer wählen – aus ökologischer oder ethischer Überzeugung.
  • Beweis: aufklärende Kampagnen, Blindtests, eine sehr gesprächige Kommunikation über den CO₂-Fussabdruck.

Oatly begnügt sich nicht damit, einen Ersatz zu verkaufen. Die Marke inszeniert einen Generationswechsel und nimmt in Kauf, von der Milch-Lobby gehasst zu werden. Auch hier wirkt der Feind als Verstärker.

BrewDog: Wenn sich der Antagonismus gegen die Marke richtet

Um ehrlich zu sein, nicht alles ist rosig in der Welt der «Anti»-Marken. Das Beispiel BrewDog zeigt das sehr gut.

Im Jahr 2022 hat sich die schottische Brauerei selbst zum «offiziellen Anti-Sponsor» der Fussball-WM in Katar erklärt, mit einer Outdoor-Kampagne, die das Event als «World F*Cup» bezeichnete und Korruption sowie Menschenrechtsverletzungen rund um die WM angriff.

Auf dem Papier passt das zu ihrem punkigen Anti-Establishment-Positioning. In der Praxis wurde der Marke jedoch Heuchelei vorgeworfen: Sie zeigte die Spiele weiterhin in ihren Bars und vertrieb Bier in Katar, während sie sich gleichzeitig als lautester moralischer Gegner inszenierte.

Ein nützliches Fazit: Antagonismus funktioniert sehr gut – bis zu dem Moment, in dem die eigene Kohärenz nicht mehr mitzieht.

Was diese Fälle über Kommunikation heute sagen

Was Black Sheep, Back Market, Oatly und BrewDog verbindet, ist weder ein Grafikstil noch eine Branche. Es ist eine strategische Entscheidung: zu akzeptieren, dass die Marke nicht «zu allen» spricht und dass sie sich über Abgrenzung aufbaut.

Einige offensichtliche Punkte, die diese Fälle schwer zu ignorieren machen:

  • In einer überfüllten Landschaft ist der echte Differenziator nicht mehr das Versprechen, sondern der Konflikt.
    Alle versprechen, verantwortungsvoller, menschlicher, digitaler zu sein. Nur wenige Marken akzeptieren es, klar zu sagen, wogegen sie kämpfen.
  • Der Feind ist eine narrative Abkuerzung.
    Wenn Sie sagen: «Wir sind das schwarze Schaf der Optik gegen Brillen für 450 €», versteht jeder sofort den Film. Dasselbe gilt, wenn Sie «Fast Tech» oder «Post-Milch-Generation» sagen. Sie vereinfachen die Welt stark, aber Sie machen Ihre Position klar und lesbar.
  • Die Medien lieben Geschichten mit einem Boesewicht.
    Das ist menschlich. Eine Erzählung, in der eine Marke ein System, einen Preis oder eine kulturelle Norm angreift, lässt sich leichter erzählen als der x-te Launch einer «nachhaltigeren» Produktlinie.
  • Der Preis dafür ist Kohärenz.
    Je schärfer Ihr Diskurs ist, desto genauer werden Ihre Handlungen geprüft. BrewDog weiss das. Morgen wird Black Sheep bei Qualität, Produktionsbedingungen und Service genau beobachtet werden. Antagonismus ist ein Beschleuniger, kein Schutzschild.

Und wenn Ihre Marke ebenfalls einen klaren Feind bräuchte?

Die eigentliche Frage für Ihre eigenen Produkte und Services ist vielleicht nicht: «Was ist unser Purpose?», sondern eher: «Wogegen sind wir wirklich der Gegenentwurf?»

Konkret kann das sehr einfache Ansatzpunkte liefern:

  • Eine Managementschule, die offen sagt: «Wir bilden keine gefügigen Führungskräfte aus, sondern Persönlichkeiten, die für toxische Organisationen unsteuerbar sind.»
  • Eine ästhetische Klinik, die klar sagt: «Wir sind gegen den permanenten Filter. Hier korrigieren wir weniger und beraten mehr.»
  • Eine B2B-SaaS-Marke, die behauptet: «Wir verkaufen nicht noch ein weiteres Tool, wir sind die Entzugskur für Ihre Excel-Tabellen.»

Nichts zwingt Sie dazu, aggressiv oder vulgär zu sein. Aber solange Ihre Marke sich weigert, den Feind zu benennen (die Norm, die Gewohnheit, die Rente, die Trägheit), ist sie dazu verurteilt, dieselbe Sprache zu sprechen wie alle anderen.

Bei Enigma sehen wir immer mehr Schweizer Marken, die von diesem Schritt angezogen sind: aus dem hoeflichen Diskurs auszubrechen, eine Form von kontrolliertem Konflikt zu akzeptieren und diese Spannung zum Kern der Erzählung zu machen. Richtig umgesetzt, ist das eine Strategie, die drei Dinge gleichzeitig abdeckt: Differenzierung, Aufmerksamkeit, Einpraegsamkeit.

Am Ende ist die eigentliche Frage ganz einfach: Sind Sie bereit, dazu zu stehen, wen Sie stoeren – um endlich wirklich im Kopf der Menschen zu existieren?

Dieser Artikel wurde von Olivier Kennedy
am 28. November, 2025
in #Branding veröffentlicht
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